Positionspapier
Eine präzise und einheitliche Definition des Begriffs Integrationssport gibt es nicht. So unterschiedlich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an integrativen Sportveranstaltungen sind, so mannigfaltig können die Aspekte des gemeinsamen Sporttreibens sein, so differenziert und vielfältig sind die Angebote im Integrationssport, so verschieden sind die Herangehensweisen der Anbieter von Integrationssportmaßnahmen. 1. Begriffsbestimmung Nach allgemeiner Übereinstimmung steht Integrationssport für das gemeinsame Sporttreiben von Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen (insbesondere von behinderten und nichtbehinderten Menschen) unter Berücksichtigung der individuellen Voraussetzungen mit dem Ziel, Integration durch das gemeinsame Sporthandeln zu verwirklichen. Ohne Ausschluss aufgrund und/oder Schweregrad einer vorliegenden Behinderung werden Menschen mit und ohne Behinderungen, bezogen auf eine sport- bzw. motorisch akzentuierte Aufgabe, auf ihrem jeweiligen individuellen Entwicklungsniveau, in Kooperation miteinander tätig. So allumfassend die Klassifizierung in Menschen mit und ohne Behinderung sein kann, meint Integrationssport im Sinne der sportpolitischen Forderung nach einem „Sport für alle“ aber, die Offenheit für alle Menschen, wie sie sich durch Geschlecht, Alter, Nationalität, Hautfarbe, Rasse, Vorkenntnisse, Erwartungen, Status, individuelle Handlungsvoraussetzungen u.s.w. unterscheiden. Der Integrationssport ist eine Form des Sports, der sich vom traditionell leistungsorientierten und trainingsintensiven Sporttreiben sowie einem rehabilitativen und therapeutischen Ansatz von Sport deutlich unterscheidet. Integrationssportgruppen zeichnen sich durch sportartübergreifende, vielseitige und erlebnisreiche Bewegungsaktivitäten aus, die neue Erfahrungen vermitteln, soziale Lernfelder eröffnen, körperliche Fitneß verbessern und Mitgestaltung und Eigeninitiative möglich machen und soziale Integration ermöglichen. 2. Selbstverständnis Um den Anforderungen und den Möglichkeiten des gemeinsamen Sporttreibens unter Berücksichtigung der individuellen Voraussetzungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer gerecht zu werden, wird von allen Beteiligten an Integrationssportmaßnahmen ein kreativer Umgang mit Sport, die Entwicklung neuer Ideen, die Erweiterung und Veränderung der planerischen Grundlagen, ein ständiges Nachdenken über völlig neue Formen des Sporttreibens und ein offener Dialog gefordert. Der Integrationssport bietet vielfältige Möglichkeiten der Integration durch das gemeinsame Miteinander bei Bewegung, Spiel und Sport. Er erfüllt die Wünsche und Erwartungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach persönlicher Zufriedenheit und Spaß. Er befriedigt soziale Bedürfnisse nach Geselligkeit und Begegnung. Er ermöglicht eine selbst verantwortete Freizeitgestaltung, gesundheitliches Wohlbefinden und eine individuelle Leistungsverbesserung und Fitneß. Durch das Selbst-Aktiv-Sein, durch Spontaneität und Selbstentfaltung, durch vielfältige Sozialkontakte und Gemeinsamkeit, durch Wohlbefinden, Spaß und Lebensgenuss, eröffnet der Integrationssport jedem Menschen die Chance zur Entwicklung eines eigenen freizeitsportlichen Lebensstils. Die Merkmale verwirklichen sich in Angeboten, Orten und Gelegenheiten, die eigenaktives Verhalten herausfordern und Anregungen zum Selbermachen, Mitmachen und Nachmachen geben. Der Integrationssport löst sich von der defizitorientierten Diagnostik einer Behinderung. Mit der positiven Besetzung des Begriffs geht er vom aktiven, gesunden, behinderten und nichtbehinderten Menschen aus. Damit ermöglicht der Integrationssport allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern individuelle Lernprozesse. Die Rahmenbedingungen und methodischen Vorgehensweisen werden so arrangiert, daß Unabhängigkeit und soziale Integration gefördert werden und zu einer besseren Lebensqualität und zur Persönlichkeitsentwicklung aller Menschen beitragen. Die Möglichkeiten sind hinsichtlich Umfang, Art, Motivation und Intensität und qualitativer, quantitativer, personeller, sächlicher und organisatorischer Bedingungen unterschiedlich. Integrative Bewegungsangebote erfassen die persönlichen Motive nach Freizeitgestaltung, Gesundheitsförderung, Körpererfahrung und Kommunikation und tragen in entscheidendem Maße zum physischen, psychischen und sozialen Wohlbefinden des Einzelnen bei. Durch die Einbindung des Sports in die alltäglichen Arbeits- und Lebensbedingungen der Sporttreibenden ergeben sich individuell bedeutsame Anknüpfungspunkte für eine selbst bestimmte und dauerhafte Sporttätigkeit. Durch das gemeinsame Bewegen, Spielen und Sporttreiben wird ein basaler menschlicher Zugang zu gegenseitigem Verstehen, sozialem Austausch und gesellschaftlicher Integration erwirkt. Der Integrationssport ist keine Alles-oder-Nichts-Forderung. Integration ist eine Lebens- und Daseinsform, die als solche situativ und temporal frei wählbar bleiben muss. Deshalb ist die ersatzlose Aufhebung anderer Sportformen nach dem Entweder-Oder-Prinzip unzulässig. 3. Methoden des Integrationssports Erfolgreich praktizierte Integrationssportkonzepte zeichnen sich durch methodische Prinzipien aus, die auf einen dialektischen Ausgleich zwischen Individualisierung und Gemeinsamkeit zielen. Im Vordergrund stehen die sozialen Prozesse des gemeinsamen Handelns, die Entwicklung der Fähigkeiten zur Selbstbestimmung und zur Selbstorganisation und ein erfahrungsoffener und entwicklungsorientierter Ansatz. Integrative Sportangebote zeichnen sich deshalb durch folgende didaktisch methodische Prinzipien aus: – Selbstständigkeit, Eigeninitiative und Mitgestaltung der Sportlerinnen und Sportler – Individualisiertes Leistungsverständnis und -profil (Leistungsnormen und -kategorien) – Freiwilligkeit und Zwanglosigkeit durch eine unterschiedliche Gewichtung des Wettkampfgedankens (fehlender oder verminderter Erfolgs- und Konkurrenzdruck) – Gemeinsame (Lern-) Situationen in koexistenziellen, komplementären, kommunikativen oder kooperativen Ausprägungen – Offenheit in unterschiedlichen Bereichen (z.B. Motive des Sports, Sozialformen, freie Zeiteinteilung) – Vielfalt an Erfahrungen in den Handlungsbereichen Bewegung, Spiel und Sport sowie deren Gestaltungs- und Wahlmöglichkeiten – Differenzierung in den Zielsetzungen, Inhalten und Methoden in einem voraussetzungs- und bedürfnisorientierten Sinne (z. B. im subjektiven Anspruchsniveau oder in den sportlichen Handlungssituationen) – Projektorientierung (z.B. durch bedarfsgerechte Verständigungen auf themenbezogene Schwerpunkte, u.a. Bewegungskünste) Die Aufgabe der Lehrkraft ist es, Bewegungs- und Spielräume bereitzustellen, Orte der Begegnung und Stätten der Wahrnehmung zu schaffen. Er ist je nach Bedarf Impulsgeber, Berater und Schlichter bei Konflikten, Moderator und Diskussionsleiter. Wenn mehrere Lehrkräfte beteiligt sind, ist eine integrative Kooperation erforderlich. 4. Handlungsfelder Der Integrationssport bietet ein reiches und breit gefächertes Bewegungsangebot aus nahezu allen Bereichen des sportartenorientierten, sportartenmodifizierten, sportartübergreifenden und sportartenunabhängigen Sports. Gerade offene und handlungsorientierte Konzepte sind ein wichtiger Bestandteil des Integrationssports. Darunter fallen die Aspekte des Abenteuersports, das Tanz- und Bewegungstheater, die Bewegungsbaustelle, das Hindernis- und Erlebnisturnen, Angebote mit/auf dem Trampolin und Bewegungskünste wie Akrobatik, Jonglage, Clownerie und Spiel- und Bewegungsaktivitäten im Wasser. Eine zufriedenstellende Mitwirkung an integrativen Sportangeboten ist nur möglich, wenn Handlungs- und Entscheidungsspielräume zur Verfügung stehen, auffordernde Bewegungsanlässe, vielfältige Bewegungserfahrungen, ein selbst gesteuertes, eigenverantwortliches Lösen von Bewegungsaufgaben und erfahrungsorientierte Sinngebungen von Sport die Chance für Könnenserfahrungen, Erfolgserlebnisse, alternative Handlungsmöglichkeiten und die Gelegenheit zum zwanglosen Lernen am gemeinsamen Gegenstand/Thema ermöglichen. Integrationssport kann institutionell im Rahmen des gemeinsamen Unterrichts an Regelschulen, in Vereinen des Behinderten-Sportverbandes und des Deutschen Sportbundes, in Sportgruppen von Institutionen wie Hochschulen und Jugendzentren oder als Kooperationen zwischen Schulen, Vereinen, an Volkshochschulen und anderen Weiterbildungseinrichtungen, Behindertenwerkstätten und Rehabilitationseinrichtungen etc. realisiert werden. 5. Ziele und Perspektiven Integrativer Sport sollein Stück Normalität für alle Menschen darstellen, Etikettierungen vermeiden und die Selbstbestimmung fördern. Der Integrationssport hat dann seinen Auftrag erfüllt, wenn Ausgrenzungen von Menschen im Sport endgültig überwunden sind und Integration zur Selbstverständlichkeit in unserer Gesellschaft geworden ist. Der Begriff In-tegrationssport wird dann von einem gemeingültigen Sportbegriff abgelöst. In einer Zeit, in der der Zusammenhalt der Gesellschaft sich immer schneller aufzulösen scheint, in der Egoismus, Gewalt und Niedertracht die Qualität unseres Gemeinschaftslebens zu untergraben scheinen, möchte der Integrationssport seinen Beitrag zu mehr Toleranz, Rücksichtnahme, Hilfsbereitschaft und Verantwortung leisten. Der Integrationssport will zur Bewusstmachung und Veränderung von sozialen Einstellungen und Verhaltensmustern im gemeinsamen Umgang von Menschen, zum Abbau von Mitleid, Befangenheit, Vorurteilen und Angst beitragen. Zwischen dem Ziel der Integration im/durch Sport und den motivationalen, organisatorischen, technischen, ausbildungsmäßigen und finanziellen Umsetzungsmöglichkeiten besteht derzeit noch eine tiefe Diskrepanz. Für ein breit gestreutes, wohnortnahes Angebot müssen die Bedingungen erheblich verbessert, Finanzierungsmöglichkeiten aufgezeigt, die Qualifizierung von Übungsleitern und Lehrern gefördert, die Öffentlichkeitsarbeit intensiviert und Einzelinitiativen koordiniert werden. Alle Maßnahmen des Integrationssports zielen auf eine gemeinsame Anstrengung zur Verbesserung der Situation benachteiligter Menschen im/durch Sport und über den Sport hinaus in die soziale Umwelt. Marburg 1999 F. Fediuk, M. Hildmann, U. Niehoff, U. Rheker, R. Seel, Chr. Schirrmacher, S. Tatka, S. Triebe